Kinder und TCM: Ernährungsideen

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Dieser Artikel erschien zuerst 2012 im YinYang Journal unserer Berufsorganisation Fachverband TCM Schweiz (ehemals SBO-TCM).

Autorin: Nina Zhao-Seiler


Kuhmilch Top, Reismilch Flop und andere interessante Themen aus der TCM Kinderheilkunde

1. Teil: Eine Annäherung

Kuhmilch Top, Reismilch Flop: Ist in der TCM Kinderheilkunde alles anders als sonst in der TCM? Ganz und gar nicht. Im Gegenteil, die TCM Kinderheilkunde ist der Bereich, in dem die Grundlagen der TCM am deutlichsten sichtbar und verständlich werden und auch ein Bereich in dem wir als Behandelnde ganz besonders nah am Geschehen, am Patienten, dem Kind, bleiben. Dadurch lernen wir besonders gut, genau zu sein in der Diagnose und der Wahl der Therapie. Der Grund dafür ist, das Kinder, weil sie ein noch sehr labiles inneres Gleichgewicht haben, schnell aus der Balance fallen (noch schneller als wir Erwachsenen!), wenn eine Krankheit, oder eben auch eine unangemessene Therapie auf sie einwirkt. Das ist eine grosse Herausforderung und auch Verantwortung.

Wer es jedoch wagt, sich auf die TCM Kinderheilkunde einzulassen, kann auf der anderen Seite auch für die Behandlung von Erwachsenen davon profitieren, denn die TCM Kinderheilkunde ist keine verkehrte TCM Welt sondern eine schonungslos mit vom Patienten wegführenden Ideen aufräumende, sich sehr stark an der genauen Beobachtung orientierende TCM Welt. Konkret wird in der TCM Kinderheilkunde, wie allgemein in der TCM als Therapieform hauptsächlich die Herbalistik, also auf den einzelnen Patienten abgestimmte TCM Arzneimittelrezepturen, eingesetzt; bei Babies und Kleinkindern ausserdem Kindertuina, allgemein auch andere Therapiemethoden wie Akupunktur, Kräuterpflaster, Bäder. All diese Methoden sind möglichst in die pragmatisch auf das Wohl des Kindes und seines Umfeldes ausgerichtete unterstützende Beratung der Eltern bzw Bezugspersonen in Fragen zur Gesundheitspflege aus Sicht der TCM eingebettet. Die Methoden selbst sind nicht ausschliessend, das heisst das Ziel ist die bestmögliche Unterstützung des Kindes in der jeweils präsentierten Situation, nicht die unbedingte Anwendung einer bestimmten Methode. Daraus folgt auch, dass die Kombination von moderner Medizin mit TCM in der Kinderheilkunde sehr ausgeprägt ist und schon viele Erfahrungen damit gemacht und gesammelt werden konnten. Bei uns in Europa und im angelsächsischen Kulturraum wird in der Kinder- Naturheilkunde oft Akupunktur mit Homöopathie oder anderen hiesigen Methoden kombiniert. Wenn so Kindern geholfen werden kann, ist das aus meiner Sicht wunderbar. Um der besseren Verständlichkeit willen, denke ich es ist aber sinnvoll, solche neuen Kombinationen nicht auch noch unter dem Begriff „TCM Kinderheilkunde“ laufen zu lassen, sondern sie mit ihrem eigenen Namen zu bezeichnen.

Wandlungen

Die Grundlagen, von denen ich oben sagte, dass sie in der TCM Kinderheilkunde besonders deutlich sichtbar werden, sind die Anwendung der Konzepte von Yin und Yang und den fünf Elementen/Wandlungsphasen auf den menschlichen Organismus. Warum werden sie in der Kinderheilkunde besonders deutlich?

Im Zentrum der YinYang und fünf Elemente Konzepte steht die Erfahrung der Wandlung: Alles, was wir sind und was uns umgibt ist im stetigen Wandel, wir können auch sagen in stetiger Entwicklung, das alles hervorbringende Welt-All, mit unserem Sonnensystem, die Jahreszeiten, die Lebe-Wesen und mit Ihnen wir Menschen. Und in welcher Lebensphase ist dieses sich wandeln, sich entwickeln besonders deutlich? In der Kindheit, insbesondere in der frühen Kindheit! Innerhalb des ersten Lebensjahres verläuft die menschliche Entwicklung auf allen Ebenen so schnell wie danach nie wieder. Aber auch während der ganzen Kindheit und Jugend ist die Wandlung durch Entwicklung deutlicher als im Erwachsenenalter. Das ist die Wandlung in Bezug auf die menschliche Entwicklung. Auch in Bezug auf das Funktionieren und Befinden des Menschen ist der stetige Wandel sichtbar: u.a. das Abwechseln von Aktivität und Ruhe, von Aufnehmen und Ausscheiden, von Freude, Wut Trauer und allen anderen Emotionen: auch dieses Wandeln ist bei Kindern besonders deutlich sichtbar. Das ist die physiologische Wandlung. Weiter können wir in der Auseinandersetzung mit äusseren Pathogenen und im Bemühen des Körpers um inneres Gleichgewicht Wandlungen sehen, z. B. Fieber infolge von Erkältung, Frieren infolge von Fieber, Schwitzen, Erbrechen, Durchfall, Verstopfung als Reaktionen z.B. auf Temperaturänderung, zu viel, oder zu wenig Nahrung oder aus pathologischen Gründen, ausser sich geraten, sich wieder beruhigen, Erschöpfung, Erholung. Die Wechsel von einem Krankheitsgeschehen von Aussen zu Innen, von Hitze zu Kälte, von „Fülle“ zu „Leere“, von Yang zu Yin und umgekehrt (acht Leitkriterien- Konzept), findet bei Kindern besonders schnell und besonders offensichtlich statt und können eben deshalb besonders gut beobachtet werden. In der TCM benutzen wir die Konzepte von Yin Yang und den fünf Elementen um diese Wandlungen genauer zu beschreiben und zu verstehen. Beispiele für das gegenseitige Beeinflussen der fünf Speicherorgane untereinander (fünf Elemente Konzept) gibt es sowohl in der Physiologie wie auch in der Pathologie sehr viele. Hier einige, die sich speziell bei Kindern oft zeigen: unruhiges Schlafen(Leber Hun) nach Überforderung der Verdauung (Nahrungsstagnation, Milz Schwäche), Neigung zu Krämpfen, Spasmen, wie z.B. Pseudokrupp (Leber) bei Lungenschwäche oder auch verlangsamte Sprachentwicklung (Herz) bei Fehlernährung oder Absorbtionsstörungen(Milz qi Schwäche). Letzteres kann jedoch auch andere Aspekte der Entwicklung beeinträchtigen, z. B. das Wachstum der Knochen und somit auch ein anderes Element hier die Niere betreffen. Wichtig ist, dass wir lernen genau zu beobachten.

Letztlich ist auch die Reaktion von Kindern auf unsere Behandlungen besonders deutlich, auch hier reagieren sie schnell und heftig. Wir haben nur dann eine Chance rechtzeitig richtig einzugreifen, wenn wir selbst auch schnell sind und nicht zu viel Zeit verstreichen lassen. Das macht die Behandlung von Kindern spannend aber eben auch anspruchsvoll.

Gleichgewicht

Die Antwort auf die Erkenntnis, dass sich alles im stetigen Wandel befindet und daher instabil, ist in der TCM die Bemühung um Gleichgewicht, um „Ausgeglichenheit“. Wo zuviel Aktivität ist, leiten wir um oder aus, wo zu wenig ist, regen wir an oder bauen auf, wo Stagnation ist, versuchen wir aufzulösen.

Da sich Kinder wie wir oben gesehen haben in der intensivsten Phase des Wandels befinden, ist dementsprechend ihr Gleichgewicht noch wenig(er) stabil. Sie geraten schneller ausser sich, sie entwickeln schnell Ungleichgewichte jeglicher Art, sind anfällig für Infekte und viele andere Krankheiten. Sie reagieren aber auch schnell auf Behandlung und Pflege, im Guten wie auch im Schlechten Sinn.

Das heisst, auch in Bezug auf das Verlieren und Wiederfinden von Ausgewogenheit können wir in der Arbeit mit Kindern sehr viel sehen und dadurch auch sehr viel lernen.

Insgesamt würde ich sagen, in der Kinderheilkunde können TCM Grundlagen durch die praktische Arbeit vertieft und verankert werden. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir bereit sind, genau hinzuschauen und nicht meinen, mit ein, zwei Informationen könnten wir uns schon auf ein bestimmtes Muster festlegen. Die Stärke der TCM liegt zu einem grossen Teil darin, dass sie flexibel die jeweilige Patientensituation berücksichtigen kann. Das kann sie natürlich nur, wenn wir als TCM-Anwender uns auch flexibel auf jede einzelne Patientensituation einlassen.

Schwierigkeiten

Nach Allem was gesagt ist, warum arbeiten dann nicht die meisten TCM TherapeutInnen in der TCM Kinderheilkunde? Das hat seine triftigen Gründe. Wenn wir, wie ich vorher beschrieben habe, die TCM Kinderheilkunde in ihrer ganzen Breite einsetzen wollen, umfasst sie ein riesiges Gebiet, nämlich die Behandlung oder begleitende Behandlung und Vorbeugung vom Grossteil aller Krankheitsgeschehen bei Kindern und Jugendlichen! Das ist sehr viel. Vielleicht zu viel. Denn wenn wir den Anspruch haben, wie ich oben beschrieben habe, mit dazu beizutragen, dass ein Kind die bestmögliche Behandlung für seine jeweilige Situation bekommt, müssen wir uns damit beschäftigen, was für eine beliebige Situation, nämlich die, die uns vom Kind mit seinen Begleitpersonen präsentiert wird, die bestmögliche Behandlung wäre und ob wir selbst diese anbieten können oder nicht. Natürlich, so absolut kann das nicht gesagt werden. Es gibt in vielen Fällen nicht eine bestimmte bestmögliche Behandlung. Was ich herausstreichen möchte ist, dass es meiner Meinung nach in der Kinderheilkunde -noch mehr als in der Erwachsenenheilkunde, wo wir es mit eigenverantwortlichen Individuen zu tun haben, die sich uns als Therapeutin ausgesucht haben- zu unserer Verantwortung gehört, dass wir uns über den Tellerrand unserer TCM hinaus darüber informieren, was für Behandlungsmöglichkeiten es in der modernen Medizin, aber auch in anderen naturheilkundlichen Systemen für das uns präsentierte Problem gibt. Dies ermöglicht uns, unsere eigene Kompetenz besser zu beurteilen und somit auch den Betreuungspersonen qualitativ bessere Beratung anzubieten. Umgekehrt sollten wir auch was innerhalb unseres TCM Tellerrandes liegt, besonders kritisch, will sagen: genau immer wieder anschauen (schon wieder!)

Dieser Anspruch ist hoch. Aber ich denke, er muss so sein. In der Kinderheilkunde wird uns von den Eltern/Betreuungspersonen unserer Patienten Vertrauen entgegengebracht. Wir übernehmen damit auch einen Teil Verantwortung für das Kind.

Ratschläge

Dieses immer wieder unsere eigene Arbeit kritisch anzuschauen ist natürlich in jedem Bereich der TCM wichtig. Aber eben weil die Kinder in alle Richtungen schneller reagieren, wirken sich auch bei den Ratschlägen Fehleinschätzungen schneller negativ aus.

In der TCM Praxis besteht ein beträchtlicher Teil unserer Arbeit aus Ratschlägen zur gesundheitsfördernden bzw krankheitsvermeidenden Lebensführung. Das kommt nicht von ungefähr: die chinesische Tradition bietet unglaublich viel zu diesem Thema, aus allen Epochen bis in die Gegenwart, gerade auch innerhalb der Kinderheilkunde.

Angefangen von Ratschlägen zur Ernährung, zur Kleidung, zum Lebensrhythmus, zur Ausbildung, zur Abwehrstärkung. Die Schwierigkeit besteht also nicht in der Menge der vorhandenen Ratschläge, sondern im Übertragen der Ratschläge aus dem chinesischen Kontext in Unseren und in der Auswahl der passenden Ratschläge für die jeweilige Familiensituation.

Hier möchte ich auf die eingangs erwähnte Kuhmilch und die „Reismilch“ zurückkommen. Das Thema Milch scheint mir ein gutes Beispiel, um die Schwierigkeit bei solchen Ratschlägen aufzuzeigen. In der chinesischen Literatur zur Klassifizierung von Nahrungsmitteln bezüglich ihrer Wirkung auf den Organismus wird die Kuhmilch als thermisch neutral sowie süss beschrieben. Sie geht zu Lungen, Magen und Herz meridian, tonisiert und nährt Lunge, Magen und Herz, bringt physiologische Säfte hervor, befeuchtet (Schaf- und Ziegenmilch werden als warm und süss klassifiziert, ansonsten ähnlich)1. Sie wird als Yin nährendes und stärkendes Nahrungsmittel gesehen, welches vor Allem für Kinder und alte Menschen förderlich ist. In der chinesischen Küche spielen Milch und Milchprodukte bis heute praktisch keine Rolle. Warme Milch als morgendliche (und zum Teil abendliche ) stärkende Nahrungsergänzung hauptsächlich für Kinder und alte Menschen ist sie jedoch weit verbreitet. Bei uns hingegen sieht es anders aus: In unserer europäischen Küche sind Milch und Milchprodukte wie Rahm, Butter, Quark, Yoghurt, Käse, inzwischen sogar schon Eiscreme fest als Hauptzutaten verankert. Kaum eine traditionelle Mahlzeit kommt ohne Milchprodukte aus. Zusätzlich bestehen riesige Überschüsse in der Milchproduktion, die zu einem grossen Absatzdruck führen und dahin, dass uns die Werbung geschickt versucht, für unsere Zwischenmahlzeiten zu zusätzlichem Milchproduktekonsum zu verführen. Kinder werden mit neuen Eiscremes, Petit Suisses und „Kinder“ geködert. Es ist also offensichtlich fraglich, ob unsere Kinder (und alten Menschen) der Nahrungsergänzung durch warme Milch morgens und abends noch bedürfen. Verständlich auch, dass viele Ernährungsberater, die TCM studieren und lernen, dass zu viel Feuchtigkeit zu Schleim führt, beginnen, von Milch, die ja befeuchtet, eher abzuraten. Nur ist es verheerend, wenn aus diesen gutgemeinten Ratschlägen mit der Zeit, aber dann eben doch plötzlich, Dogmen werden, die, in TCM Schulen und Kursen gepredigt oder auch nur beiläufig erwähnt, sich leichter verbreiten, als differenzierte Vorgehensweisen, die genaues Beobachten verlangen. Wie in meinem Beispiel das Dogma: Milch produziert Schleim. Das führt im Extremfall zur Folgerung: Babies und Kleinkinder leiden häufig unter viel Schleimproduktion, also sollten sie möglichst keine Milch trinken bzw Milchprodukte essen. Stattdessen wird zum Teil die weniger befeuchtende Zuckerbombe namens „Reismilch“ empfohlen, eine in Amerika als Grundlage für vegane Desserts entwickelte Flüssigkeit(der darin enthaltene Zucker ist Malzzucker aus gemälztem Reis). Natürlich ist dieses Szenario etwas drastisch dargestellt, aber es kann tatsächlich so weit kommen, dass Kleinkinder oder sogar noch jüngere Kinder, die – da sie in TCM orientierten Haushalten leben, wo nicht traditionell europäisch gekocht wird- in ihrer täglichen Ernährung wenig bis keine Milchprodukte zu sich nehmen, sogar den morgendlichen und abendlichen Schoppen in Form von „Reismilch“ zu sich nehmen und so am Ende fehlernährt dastehen und dadurch zum Beispiel infektanfällig werden, Schleim produzieren und… deshalb noch stärker von Milch ferngehalten werden. Oder ihre Knochen nicht kräftig genug sind, sie sich nicht zu rennen und springen getrauen und leicht die Knochen brechen. Natürlich gibt es viele kleine Patienten, deren übermässige Schleimproduktion nach einer Verringerung von Milchprodukten sehr schön zurückgeht. Ich versuche nur anhand von diesem (in meiner Praxis sehr realen!) Beispiel aufzuzeigen, wie wichtig es

ist, sorgfältig und genau mit Ratschlägen und Hinweisen umzugehen, in der Praxis, wie auch in der Ausbildung. Und wie sinnvoll es ist gerade in der TCM, deren Stärke, wie schon gesagt in der Möglichkeit einer individualisierten Behandlung liegt, möglichst auf Dogmenbildung zu verzichten.

Offenheit

Es gibt noch viele andere Themen, wo die Übertragung von traditionellen Empfehlungen in unsere Welt nicht ganz einfach ist. Wir müssen immer wieder eine Auswahl treffen, offen und sensibel bleiben, für dass, was uns in der Praxis auch wirklich an Bedürfnissen begegnet. Die Weisheit der vergangenen Ärzte in unserer Zeit sinnvoll einzusetzen ist in jedem Fall eine Kunst und eine grosse Herausforderung. Im Bereich der TCM Kinderheilkunde werden wir ganz besonders dazu angehalten genau zu schauen. Um jede Veränderung zu bemerken, aber auch um den Mangel an direktem sprachlichem Austausch wettzumachen. Das ist anspruchsvoll. Aber gleichzeitig hilft uns gerade das auch, in unserer Heilkunst insgesamt erfolgreicher zu werden.

Teil 2 (falls erwünscht) beschäftigt sich konkreter mit den verschiedenen Diagnose- und Behandlungsmethoden und ihrer Geschichte

Für einen ausführlichen Kommentar zur Ernährung von Kleinkindern aus meiner Sicht hier

1 für mehr Details siehe: U. Engelhardt/C.H.Hempen: Chinesische Diätethik, Grundlagen und praktische Anwendung, München 1997, S. 336 f.